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Gebetsruf, Glocken, Dezibel

Für gläubige Muslime stellt der Ruf zum Gebet ein wichtiges Element ihres Tages dar. Ende vergangenen Jahres wurde zum dritten Mal im israelischen Parlament der Entwurf eines Gesetzes debattiert, das durch Lautsprecher verstärkte Gebetsrufe verbieten soll.
In vielen Moscheen wird der Gebetsruf mit installierten Lautsprechern verstärkt. Um Nachbarn nicht zu stören, könnten diese künftig dezentral angebracht werden.

Das Gebet ist verdienstvoller als der Schlaf! Kommt, macht euch auf zum Gebet!“ Jeden Tag, kurz vor der Morgendämmerung, ruft Tawfik al-Ajan diesen Satz mit melodischer Stimme. Über Lautsprecher schallt der Ruf vom Dach der Rahman-Moschee über die Dächer von Beit Safafa. Weil der Stadtteil zu Jerusalem gehört, steht auch die Rahman-Moschee unter dem israelischen Wakf-Gesetz.

„Fünf Mal am Tag sollen wir Muslime beten, und am besten ist es, wir verrichten das Gebet in der Moschee.“ Was für Tawfik, der als Muezzin tätig ist, das Normalste der Welt ist, stellt für Ofer Ajubi das Einbüßen der Lebensqualität dar. Der Jude ist Vorsitzender der Nachbarschaftsverwaltung von Gilo, dem Nachbarort Beit Safafas. „Der Ruf des Muezzins wurde in den letzten Jahren immer lauter. Am Jom Kippur, unserem höchsten Feiertag, vor vier Jahren, ertönte der Muezzinruf für mehrere Stunden. Es war eine bewusste Provokation. Überhaupt sind die Rufe mal lauter, mal leiser. Das Mischpult wird manipuliert. Es gibt Kinder, die zum Psychologen gehen, weil sie nachts nicht schlafen können.“

Davon will Tawfik jedoch nichts wissen: „Es stimmt, oft rufe ich zum Morgengebet sogar zweimal, im Abstand von einigen Minuten, um Leute aufzuwecken und die zu erinnern, die nach dem ersten Mal noch nicht kommen. Es gibt Moscheen, deren Gebetsruf synchronisiert ist, bei anderen ist das nicht der Fall. Unser Gebetsruf hat aber sicher weniger als 50 Dezibel und ich bin der einzige, der zum Schaltpult Zugang hat. Niemand kann die Lautstärke verändern.“ Ofer schaut resigniert.

Seitdem Beit Safafa elektrisch erschlossen ist, wird auch der Gebetsruf per Lautsprecher verstärkt. Das begann im Jahr 1962, doch der Muchtar, der Ortsvorsteher Muhammad al-Ajan, argumentiert: „Beit Safafa hat es schon vor der Staatsgründung Israels gegeben. Bereits damals haben wir zum Gebet gerufen. Irgendwann begannen die Familien aus Gilo, sich bei der Polizei über unseren Gebetsruf zu beschweren.“ Auf Nachfrage erklärt er: „Das Morgengebet hat am wenigsten Besucher, manche beten auch zu Hause.“

Auch Muslime fühlen sich gestört

Dass es auch Muslime gibt, die sich durch die lauten Rufe zum Gebet gestört fühlen, will er nicht wahrhaben: „Es ist die Pflicht eines jeden Muslim, sich für unsere Gebete einzusetzen. Gott hat das so angeordnet.“ Muhammad spricht von etwa 15.000 Einwohnern in seinem Ort. Er glaubt an ein friedliches Zusammenleben zwischen Christen, Muslimen und Juden. „Die meisten Bewohner sind Muslime, zehn Prozent Christen, und es gibt auch einige Juden.“ Von der Notwendigkeit des Gebetsrufs per Lautsprecher ist er überzeugt: „Weil die Leute über das ganze Gebiet verteilt wohnen, müssen wir zum Gebet rufen. Als Muslime respektieren wir unsere Nachbarn, der Koran fordert uns dazu auf.“

Muhammad betont die gute Beziehung zu den jüdischen Nachbarn: „Wir nutzen eine gemeinsame Straße, wollen die Stabilität wahren und keine Spannungen aufbauen. Wir als Madschlis, als Versammlungsort, in dem sich Imame und geistige Führer treffen, haben uns entschieden, die Lautsprecher zu limitieren. Natürlich gibt es immer Leute auf beiden Seiten, die gegen alles Einwände haben. Obwohl es nur wenige Bewohner von Gilo sind, die unser Gebetsruf stört, haben wir uns vor einigen Monaten zusammengesetzt und nach Lösungen gesucht.“ Das Ergebnis war ein Vorschlag, die Lautsprecher nicht an der Moschee, sondern an verschiedenen Orten anzubringen, sodass sie gezielt auf die arabischen Wohnbereiche gerichtet sind und der Schall nicht in Richtung der jüdischen Bewohner ging. Doch pro Moschee würde das Projekt umgerechnet etwa 40.000 bis 80.000 Euro kosten. „Aktuell warten wir auf Antwort der Polizei, ob die Jerusalemer Stadtverwaltung bereit ist, das zu zahlen“, sagt er.

Auch Ofer ist gespannt auf die Antwort bezüglich der dezentral angebrachten Lautsprecher: „Es würde schon helfen, deren Form zu verändern, sie zum Beispiel rechteckig zu bauen. Durch die runde Form trägt der Schall viel weiter als nötig. Ich verstehe, dass es eine Menge Geld kostet, das neue System aufzubauen. Doch unsere Lebensqualität würde massiv steigen.“

Ofer erzählt: „Bewohner von Gilo kommen zu mir und beschweren sich über den Ruf des Muezzins. Es gibt sogar Muslime aus Beit Safafa, die mich bitten, gegen den Krach vorzugehen. Öffentlich können sie sich nicht äußern, weil sie Angst vor gesellschaftlicher Ächtung haben.“ Er räumt ein, dass auch die wöchentlich ertönende Schabbatsirene für die Nachbarn nervig sein kann: „Doch die ist von einer Stelle zentral geschaltet. Sie besitzt keine Lautsprecher und man kann die Intensität des Lärms zwischen Muezzinruf und Schabbatsirene nicht vergleichen.“

Verbot der Lautsprecher?

Wegen dieses Streitpunkts wurde Ende vergangenen Jahres eine neue Gesetzesvorlage in die Knesset eingebracht. „Die Rufe stören Christen, Juden und auch viele nicht religiöse Muslime“, sagt Robert Ilatov, Mitglied der Partei Israel Beitenu und Abgeordneter in der Knesset: „Es ist die dritte Kadenz, in der wir diesen Gesetzesvorschlag einbringen. Das Gesetz betrifft Menschen, die in gemischten Gesellschaften leben. Wir sprechen von etwa 500.000 Israelis, die morgens durch den Muezzinruf geweckt werden. Die Moscheen benutzen laute und aggressive Lautsprecher, sie sind nicht synchronisiert und nicht auf die gleiche Dezibelstärke abgestimmt. Weil die Muezzine zu unterschiedlichen Zeiten rufen, kommt es dazu, dass manche Leute über zwei bis drei Stunden nicht schlafen können. Besonders der morgendliche Gebetsruf ist ein Problem.“

Dass das Gesetz den Dialog auf lokaler Ebene zum Erliegen bringen würde, glaubt Ilatov nicht. „Der Entwurf besagt, dass die Lautsprecher verboten werden sollen, aber doch nicht der Gebetsruf. Es gibt viele Arten, zu rufen. Auch Juden nutzen keine Lautsprecher. Trotzdem beten sie dreimal am Tag.“

Das Problem ist seit längerem bekannt. „Nur an zwei Orten haben wir bisher eine Übereinstimmung getroffen, an tausenden anderen Orten ist die ausgeblieben. Wenn die Polizei die Einhaltung des Lärmschutzgesetzes nicht durchführt, brauchen wir eben ein neues Gesetz.“ Ilatov verweist auf die Diskussionen in Ägypten, Marokko, Frankreich und Deutschland: „Auch in diesen Ländern ist die Lautstärke der Gebetsrufe begrenzt.“

Im Pressegespräch zeigen sich Teilnehmer besorgt, ob das neue Gesetz auch auf Kirchenglocken, beispielsweise in der Jerusalemer Altstadt, oder auf den traditionellen Kanonenschuss im Ramadan Einfluss hätte. Doch Ilatov widerspricht: „Natürlich sind die Glocken und der Kanonenschuss nicht von dem Gesetz betroffen, da sie nicht per Lautsprecher verstärkt werden. Das Ganze ist kein Religionskrieg. Es geht schlicht um die Lebensqualität von Tausenden von Menschen.“ Auch wenn eine Glocke oder Synagoge eine bestimmte Dezibelzahl überschreiten würde, wäre es gegen das Gesetz. Auf welche Dezibelzahl der Muezzinruf beschränkt werden solle? Das ist Ilatov nicht so wichtig. Stattdessen betont er: „Wenn wir Juden Schabbat oder jüdische Feste feiern, stören wir auch nicht unsere Nachbarn. Gleichermaßen sollten die Muslime eine Lösung finden, die für die Nachbarn erträglich ist.“

Auch Juden fürchten die Gesetzesvorlage

Der arabische Knessetabgeordnete Ahmad Tibi wittert hinter dem Vorschlag lediglich islamophobe Absichten: „Den Ruf des Muezzin hat es lange vor der Staatsgründung Israels gegeben. Warum sollten wir ihn jetzt einstellen?“ Er betont, dass er sich mit Knessetabgeordneten von ultraorthodoxen Parteien wie Jakob Litzman vom Vereinigten Torah-Judentum oder Arje Deri von der Schass einig sei. Auch Mosche Kachlon von der Regierungspartei Likud stimmte gegen den Entwurf. Das Vereinigte Torah-Judentum stimmte gegen den Vorschlag, weil die Partei befürchtete, das Gesetz könnte sich auch auf die Sirene beziehen, die in vielen Städten Israels den Schabbat einläutet. Auch Tibi nennt keine Dezibelzahlen, macht aber klar: „Wir werden keine Entscheidungen von jüdischen Leitern über muslimische Angelegenheiten akzeptieren.“

Mitte Februar hat ein Ministerkomitee den Gesetzesvorschlag angenommen. Über ihn muss nun die Knesset in drei Lesungen abstimmen. In Beit Safafa und Gilo müssen Muhammad und Ofer also weiterhin kreative Ideen finden, um das Problem zu lösen. Doch abgesehen von ihrer Haltung zum Gebetsruf sind sie sich einig: „Wenn alle miteinander lebten, wie wir das tun, würde es weniger Probleme auf der Welt geben.“

Den Artikel „Lautsprechergesetz: Gebetsruf, Glocken, Dezibel“ finden Sie auch in der Ausgabe 1/2017 des Israelnetz Magazins. Sie können die Zeitschrift kostenlos und unverbindlich bestellen unter der Telefonnummer 06441/915152, via E-Mail an info@israelnetz.com oder online unter www.israelnetz.com.

Von: mh

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