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„Ein guter Jude kann dein Freund sein“

Hindia Sliman gehörte zu den Frauen, die beim diesjährigen israelischen Unabhängigkeitstag eine Fackel beim Staatsakt auf dem Jerusalemer Herzl-Berg entzünden durften. Im Gespräch mit Israelnetz erklärt die Araberin, warum Israel für sie kein jüdischer Staat ist und ihre Söhne beim Militär dienten.
Der Verkauf traditioneller Produkte an Juden soll Verständnis für arabische Traditionen wecken.

Traditionell werden am Vorabend des israelischen Unabhängigkeitstags beim offiziellen Staatsakt auf dem Herzl-Berg zwölf Fackeln entzündet. Die Fackeln stehen für die zwölf Stämme des Volkes Israel. Am 66. Unabhängigkeitstag des Staates Israel, der am Abend des 5. Mai begann, stand die Stellung der Frau in der israelischen Gesellschaft im Mittelpunkt der Zeremonie. Vierzehn Frauen, die sich in besonderer Weise um ihre Gesellschaft verdient gemacht haben, entzündeten die Fackeln, darunter eine Araberin aus dem Dorf Buaine Nudschaidat in Galiläa.
Mein Name ist Hindia Sliman. Ich bin die Tochter von Salih und Fatma Sliman.“ Die Frau mit dem weißen Kopftuch und dem freundlichen Gesicht strahlt Würde aus. Stolz berichtet sie: „Mir wurde die Ehre zuteil, die Fackel zu entzünden, weil ich mich darum bemühe, die Stellung der Frau in der arabischen Gesellschaft zu verbessern.“
Hindia ist die Älteste von sieben Geschwistern: „Früher gab es das arabische Buaine und das beduinische Dorf Nudschaidat“, erklärt sie ihren Heimatort. „Als ich 1953 geboren wurde, lebten hier gerade mal 500 Einwohner. Heute gibt es nur noch Buaine Nudschaidat, wo knapp 8.000 Menschen zu Hause sind.“
Hindias Vorfahren waren Fellachen, Bauern. Die Großmutter väterlicherseits stammte aus Nudschaidat und war Beduinin. „Heute gibt es keinen Unterschied mehr zwischen Landarabern und Nomaden. Sie heiraten auch untereinander. Wir sind alle Muslime.“
Damals war das Leben im Dorf sehr schwer, erzählt Hindia. Es gab keine Elektrizität, keine Straßen und keine Schulen. „Unterrichtet wurden wir in einem kleinen Zimmer.“ Anfang der 1960er Jahre arbeitete ihr Vater dann als Bauarbeiter in Haifa. Bis 1966 standen die Araber in Israel unter Militärverwaltung. Deshalb brauchte er immer eine Genehmigung, um aus Buaine nach Haifa fahren zu dürfen. Zudem war die Verkehrsverbindung sehr schlecht, es gab noch keine Straße im Dorf. „So ist mein Vater mit uns nach Haifa gezogen, ich war damals elf Jahre alt. Wir haben auf dem Karmel gewohnt, in Kababir. Dort gehören die Muslime der Ahmadija an.“
Die Ahmadija-Bewegung ist als muslimische Sekte um 1889 in Indien entstanden. Aufgrund ihres missionarischen Charakters gründeten sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch in Palästina Zentren dieser Gruppierung. Im Gegensatz zu sunnitischen Muslimen, die in Galiläa in der Mehrzahl sind, glauben die Ahmadis an die Prophetenschaft ihres Gründers Ghulam Ahmad.
Buaine Nudscheidat liegt nur wenige Kilometer von Tiberias entfernt. „Wie viele aus unserem Dorf, hat auch mein Bruder Muhammad dort gearbeitet“, erzählt Hindia. „Aber das Leben war ihm zu schwer. Er hat eine Finnin kennengelernt und geheiratet. Seit elf Jahren leben sie in Schweden. Ich vermisse ihn. Aber er kommt uns jedes Jahr besuchen.“
1996 ist Hindias Mann gestorben. Bald wurde ihr klar, dass sie ihr Leben selbst in die Hand nehmen musste, als „Frau mit vier kleinen Kindern, in einem kleinen Dorf, wo alles verboten ist“. Sie machte den Führerschein in Haifa und wurde so zur ersten Frau im Dorf, die ein eigenes Auto besaß. Dann eröffnete sie einen kleinen Laden, in dem sie Kleidung verkaufte.

„Dies ist unser Land!“

Einen Sohn schickte Hindia auf ein jüdisches Internat. „Ich wollte, dass meine Kinder die Juden und ihre Sprache kennenlernen. Wir leben doch hier. Dies ist unser Land!“ Die Stimme der Araberin klingt energisch: „Weil die Juden unser Land genommen haben, müssen wir verstehen, was sie sagen und wie sie denken. Und wir müssen unsere Rechte kennen.“
Inzwischen hat Hindia 15 Enkel. Drei ihrer Kinder wohnen in Buaine. Der jüngste Sohn ist Angestellter beim amerikanischen Konsulat in Jerusalem. Stolz berichtet sie: „Er spricht sehr gut Englisch, wie auch meine Tochter. Das haben sie aus dem Fernsehen gelernt.“ In Israel werden fremdsprachige Filme mit Untertiteln gezeigt.
Hindia wehrt sich gegen Verallgemeinerungen: „Ich will nicht über Juden sagen, dass sie dreckig sind, wenn ich sie gar nicht kenne. Andererseits will ich auch nicht sagen, Juden seien gut, ohne sie zu kennen. Genau wie bei Arabern gibt es auch unter Juden gute und schlechte Menschen. Das habe ich meinen Kindern beigebracht: ‚Von schlechten Menschen halte dich fern. Aber wenn ein Jude ein guter Mensch ist, kann er dein Freund werden.‘“
Alle drei Söhne von Hindia haben in Israel ihren Militärdienst geleistet. Anfangs gab es im Dorf viel Gerede: „Die schickt ihre Kinder zu den Juden. Sie ist schlecht und verdorben.“ Hindia macht eine wegwerfende Handbewegung: „Alle haben gesehen, was aus meinen Kindern geworden ist. Sie sind beliebt und stehen wirtschaftlich gut da. Die Leute geben zu: ‚Du hast Recht behalten. Deine Kinder sind gut erzogen und können sich den Juden gegenüber zur Wehr setzen.‘“

Ein Frauenzentrum

Der Anstoß zur Arbeit mit Frauen kam vom israelischen Tourismusministerium, das Hilfe anbot, um die Stellung der arabischen Frau zu stärken und alte Traditionen zu bewahren. „So habe ich 2006 begonnen, Frauen zu mir nach Hause einzuladen“, erzählt Hindia: „Wir machten Handarbeit und haben gemeinsam gekocht.“
Die Verständigung mit der Vertreterin des Tourismusministeriums gestaltete sich nicht ganz einfach: „Aus der Schule konnte ich zwar Hebräisch lesen und schreiben“, erklärt Hindia, „aber wenn ich gesprochen habe, haben meine Kinder nur gelacht. Bis ich etwas Hebräisch gelernt habe, unterhielten wir uns in Zeichensprache. Heute sind wir gut befreundet.“
Immer mehr Frauen kamen zu Hindia, darunter viele jüdische Frauen aus der weiteren Umgebung. Bald wurde ihr Haus zu klein. Deshalb mietete sie einen Raum in einem traditionellen arabischen Haus, das einst ihrem Urururgroßvater gehört hatte. Über der Eingangstür steht in westarabischen Ziffern „1226 h“. Demnach wurde das Haus 1226 Jahre nach der Hidschra, der Auswanderung des Propheten Muhammad von Mekka nach Medina, gebaut. Nach gregorianischem Kalender war das im Jahr 1811.
Hindia blättert in ihrem großen Notizbuch: „Jeden Monat kommen Besuchergruppen hierher, manchmal vier Busse gleichzeitig.“ An den Wänden des Raums hängen Wandbehänge, Taschen, Ketten und Perlenuntersätze, die die Frauen gestickt, gebastelt und genäht haben. „Das Interesse ist groß. Juden kommen meist sehr vorsichtig herein, sind misstrauisch.“ Hindia steht auf und imitiert lachend die Gesten der Besucher. Dann setzt sie sich wieder und schlürft ihren schwarzen Tee: „Ich erzähle ihnen von der Stellung der Frau in der arabischen Gesellschaft und davon, dass wir Araber keine Terroristen sind, sondern in Frieden mit den Juden leben wollen. Ich bewirte sie mit Tee und Gebäck und biete ihnen die Produkte der Frauen zum Verkauf an. Der Erlös geht zu 100 Prozent an die Frauen, ich selbst bekomme kein Geld. Wir erheben lediglich einen kleinen Beitrag von den Besuchern, um die Mietkosten des Raumes zu decken.“
Auf diese Weise will sie Berührungsängste zwischen Juden und Arabern in Israel abbauen. Im Laufe von acht Jahren empfingen die zwanzig Frauen, die mit Hindia zusammenarbeiten, etwa 5.000 Besucher. Ähnliche Zentren sind seitdem in weiteren arabischen Dörfern in Galiläa entstanden. Hindia Sliman gibt ihre Erfahrungen gern weiter.

Als Araberin „zur Ehre des Staates Israel“

Mitte März 2014 kommt ein Anruf aus dem Präsidentenbüro in Jerusalem. Ein Mann namens Schlomo erklärt ihr, sie sei ausgewählt worden, um die Fackel für den israelitischen Stamm Sebulon zu entzünden. Hindia ist überrascht: „Ich verstand überhaupt nicht, was der Anrufer wollte und hab‘ das Telefon meinem Nachbarn gegeben. Der erklärte es mir dann und ich sagte zu. Nach einigem Nachdenken wollte ich wieder absagen. Letztendlich habe ich mich dann doch entschieden, die Herausforderung anzunehmen: Ich kann Tausenden deutlich machen, dass es uns gibt, uns arabische Israelis! Ich habe kein Problem damit, im Staat Israel zu leben. Wenn mir Unrecht getan wird, wende ich mich an den Staat und fordere ohne Angst meine Rechte ein.“
Selbstbewusst erklärt Hindia weiter: „Wenn ich hier in meinem Zentrum fünfzig Juden gegenüber stehe, sage ich ihnen ins Gesicht: ‚Wir Araber sind hier geboren und aufgewachsen. Wir bleiben hier! Dies ist unser Land und wir wollen in Frieden leben. Wenn ihr mit uns in Frieden leben wollt, seid ihr herzlich willkommen. Wenn nicht, dann lasst uns in Ruhe. Wir werden nicht auswandern, sondern bis zum Tag der Auferstehung hierbleiben!‘“

„Israel ist kein jüdischer Staat“

Auf die Frage, wie das Leben für sie als Muslima im jüdischen Staat sei, erklärt sie wütend: „Ja, ich lebe im Staat Israel. Dass es den gibt, bezweifelt keiner. Aber das ist doch kein jüdischer Staat! Es ärgert mich, wenn Bibi Netanjahu das behauptet. Hier gibt es Christen, Muslime, Juden und Tscherkessen. In Tel Aviv kommen die Menschen aus Russland, Deutschland und aus aller Welt. Von 1.000 Juden sind vielleicht zehn hier aufgewachsen. Wir Araber haben unser ganzes Leben hier gewohnt.“
Entsprechend nüchtern sieht sie die Feier zum Unabhängigkeitstag: „Der Unabhängigkeitstag des Staates Israel bedeutet mir nicht viel. Ich höre immer wieder: ‚Die Juden sind gekommen und haben unser Land genommen.‘ Aus unserem Dorf ist 1948 nur eine Familie nach Jordanien gegangen. Alle anderen sind geblieben. Natürlich bin ich für die Gründung eines palästinensischen Staates. Aber auch wenn es den irgendwann geben wird, werde ich hier bleiben. Für kein Geld der Welt werde ich meine Heimat verlassen!“
Hindia beschreibt ihren Identitätskonflikt: „Wenn ich im Ausland gefragt werde, woher ich bin, sage ich immer: ‚Ich bin muslimische Palästinenserin, die in Israel lebt.‘ Als ich 2010 auf der Hadsch, der Pilgerreise in Mekka, war, habe ich Muslime aus aller Welt getroffen. Oft wurde ich mit ungläubigen Augen angeschaut: ‚Du bist eine 48er Palästinenserin? Sicher hast du Probleme mit den Israelis! Wegen deines Kopftuches … und auch sonst. Die Juden tun dir sicher Gewalt an.‘ Dann habe ich ihnen erklärt: ‚Nein, ich bin Mutter von vier Kindern. Ich bekomme vom Staat eine Witwenrente und meine Kinder durften kostenlos lernen. Bis zu ihrem 18. Lebensjahr habe ich sogar Kindergeld bekommen.‘ Auch wenn ich nicht glaube, dass Israel ein jüdischer Staat ist, ich lebe gerne hier. In Syrien oder Ägypten zum Beispiel wollte ich nicht leben. Es gibt dort zu viel Ungerechtigkeit.“

Reaktionen

Im Erdgeschoss des Hauses, das ihrem ältesten Sohn gehört, ist ein Café eingemietet. Hindia trifft sich dort mit ihrem Sohn zum Mittagessen: Es gibt Hummus, den orientalischen Kichererbsenbrei. Etliche Jungen tauschen sich nach der Schule bei einer Wasserpfeife über die neuesten Ergebnisse beim Fußball aus. Auf die besondere Rolle ihrer Nachbarin bei der israelischen Zeremonie angesprochen, lachen sie nur: „Wir finden gut, dass sie das macht!“ Hindia weiß: „Viele Araber sind dagegen, dass ich nach Jerusalem fahre. Die meinen, das legitimiere den jüdischen Staat. Aber ich habe ihnen gesagt: ‚Denkt ihr, die Fackel wird nicht entzündet, wenn ich nicht hingehe?!‘“ Viele sagen ihr aber auch: „Du setzt dich für unsere Rechte ein. Das ist gut.“
Hindia sieht das ähnlich: „Mit dem Entzünden der Fackel mache ich auf die Lage der arabischen Frauen in Israel aufmerksam, helfe ihnen voranzukommen und unsere Traditionen zu wahren.“ Und deshalb schließt Hindia Sliman als muslimische Palästinenserin, israelische Staatsbürgerin und Mutter dreier israelischer Soldaten genau wie die anderen Israelinnen vor und nach ihr, ihre kurze Ansprache zum 66. Unabhängigkeitstag Israels mit den Worten: „Zur Ehre des Staates Israel!“

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